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@grar.de Aktuell - 12.06.2003

Udo Pollmer: Offener Brief an Land- und Fleischwirtschaft


München (agrar.de) - Den folgenden offenen Brief an Land- und Fleischwirtschaft
veröffentlicht der Lebensmittelchemiker und wissenschaftliche leiter des
Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften
(EU.L.E.), Udo Pollmer:

'Wie Sie aus leidvoller Erfahrung wissen, ist vielen Menschen der Appetit auf
Fleisch gründlich vergangen – selbst denen, die bisher gerne ihr Wurstbrot aßen
oder mit Vergnügen saftige Steaks grillten. Entgegen der populären Auffassung sind
daran weniger BSE-Fleisch oder nitrofenhaltiges Hühnerfutter schuld. Blicken wir
zurück: Obwohl die Fleischproduktion über Jahrzehnte von Skandalen und Krisen
begleitet wurde, war die Welt stets wenige Wochen nach der großen Empörung samt
Kaufboykott wieder in Ordnung und es blieb bei den alten Konsumgepflogenheiten.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Bereits belanglose Anlässe wie eine
schwankende Kuh oder Übelkeit nach dem Verzehr einer Torte bewirken heutzutage
nachhaltige Veränderungen des Marktes.
Selbst Jahre nach dem Beginn der BSE-Krise ist der Vertrauensverlust nicht
wettgemacht – trotz erheblicher Anstrengungen, das Produkt Fleisch sicherer zu
machen. Wer dafür in erster Linie den Journalismus oder die Sensationslust
verantwortlich machen will, verkennt, dass die nachhaltige Änderung im
Verbraucherverhalten andere Ursachen haben muss. Schließlich entscheidet nicht
allein der Journalist, welche Themen erfolgreich sein werden: Nur solche, die beim
Kunden auf starke Resonanz stoßen, halten sich in den Medien. Nicht anders war es
während der BSE-Krise der Fall. Selbst die überwiegende Mehrzahl der Journalisten
war der Meinung, dass das Thema innerhalb weniger Tage oder Wochen 'gegessen' sei.
Es haben sich alle geirrt.

Esssünden und Gewissensbisse

Eine wichtige Ursache für die Krise liegt tiefer. Früher galt Fleisch als 'gesund'
und 'lebenswichtig'. Das hat sich grundlegend geändert. Seit Jahren warnen
Frauenzeitschriften, Gesundheitssendungen, Ernährungsgesellschaften und Ärzte vor
'Cholesterin' und 'versteckten Fetten'. Sie attackieren Fleisch als Ursache von
Schwabbelbäuchen, Darmkrebs und Herzinfarkt. Statt dessen empfehlen sie den
Verzehr von Körnern, Salatblättern und Obst. Doch der Erfolg ihrer Bemühungen
blieb bisher bescheiden, denn der Appetit hat beim Essen ein gewichtiges Wörtchen
mitzureden.

Solange der Verbraucher das Fleisch noch als ein 'Stück Lebenskraft' ansah,
konnten ihm auch Skandale nicht viel anhaben. Jetzt aber geben tierische
Lebensmittel Anlass zu Gewissensbissen – nicht zufällig haftet dem Braten das
Image einer 'Esssünde' an. Diese Destabilisierung des Vertrauens in die
ernährungsphysiologische Unbedenklichkeit eines begehrten Nahrungsmittels legte
den Grundstein für die Agrar-Krise. Denn wer 'Ungesundes' mit schlechtem Gewissen
isst und 'Esssünden' begeht, der rechnet innerlich auch mit Strafe. Entsprechend
wurde BSE als 'gerechte Strafe' für das unmoralische Verhalten der Menschen
empfunden, frei nach dem Motto: Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort,
größere haben Inkubationszeiten wie BSE.

Dass Fleischessen immer mehr zur Gewissensfrage wird, belegt etwa die Haltung von
Schülerinnen in deutschen Großstädten. So verzichtet bereits ein erheblicher Teil
auf den Verzehr von Fleisch – aus Mitleid mit dem Tier. Im Laufe der Pubertät
spielt dann die Angst vor Fett und Übergewicht eine immer wichtigere Rolle. Wer
sich in seiner Kindheit oder Jugend des Fleischverzehrs entwöhnt, verträgt oftmals
für den Rest seines Lebens keinerlei Fleisch. Die Generationen hingegen, die Zeit
ihres Lebens Fleisch und Wurst gegessen haben, werden das auch noch tun, wenn sie
80 sind – die Jungen aber nicht mehr. Das verändert die Märkte ebenso langsam wie
unumkehrbar.

Privileg der Wohlstandsgesellschaft

Natürlich kommen die Kids nicht aus heiterem Himmel auf die Idee, dass man Tiere
nicht schlachten darf. Schließlich haben sie keinerlei Probleme, sich Videofilme à
la 'Kettensägen-Massaker' anzusehen und dabei scheußlichste Morddarstellungen zu
genießen. Wird jedoch einem Huhn der Hals umgedreht, bekommen sie weiche Knie.
Eine wichtige Ursache dafür bilden Naturdarstellungen, Schriften und Filme, welche
die belebte Welt nicht mehr als ein System von Fressen und Gefressenwerden
darstellen, sondern eher so wie das Paradies in den Broschüren der Zeugen Jehovas.
Dort frisst der Löwe Gras, weil er das süße Lämmchen streicheln will. Doch nicht
die Zeugen Jehovas haben die Menschen missioniert, sondern zahlreiche
Ernährungsberater, die ihr göttliches Wissen aus den päpstlichen Dekreten der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfangen haben. Alles, was die Menschen
essen, macht sie angeblich krank: Zucker, Fett, Eiweiß, Salz, Cholesterin und
Kalorien. Also genau das, was Gesellschaften mit einer hohen Lebenserwartung
auszeichnet. Unsere Wohlstandsgesellschaft hat schließlich die Gnade, an
Zivilisationskrankheiten sterben zu dürfen – weil die Parasiten und
Krankheitserreger besiegt sind, weil die Seuchen zumindest vorläufig ihren
Schrecken verloren haben und niemand mehr wegen einer infizierten Schnittwunde in
der Blüte seines Lebens abtreten muss.

Während vor 100 Jahren nur jeder Zweite an einer so genannten
Zivilisationskrankheit starb, sind es heute die allermeisten. Was wie eine
Bedrohung wirkt, ist Zeichen einer Gesellschaft, deren Mitglieder doppelt so lange
leben, weil sie sich nicht mehr vor bakteriellen Keimen fürchten müssen – etwas,
das wir auch den Fortschritten in der Land- und Lebensmittelwirtschaft verdanken.
Aber offenbar hat sich in der aufklärerischen Gesundheitsszene noch nicht
herumgesprochen, dass jeder Mensch eines Tages sterben muss.

Jede 'besiegte' tödliche Krankheit zieht eine andere ebenso tödliche Krankheit
nach sich. Diese – gegenwärtig sind es die Zivilisationskrankheiten – wird dann
zur Geißel des jeweiligen Jahrhunderts ernannt, um sie durch 'bewusste Ernährung'
von Kindesbeinen an zu vermeiden. Folglich haben die Ernährungsspezialisten die
'Fünf-am-Tag'-Kampagne aus der Taufe gehoben. Obst enthält wenig Eiweiß, wenig
Fett, wenig Kalorien, wenig Cholesterin und 'natürliche Süße'. In der
Vorstellungswelt vieler Menschen bringt sie der Obstkonsum dem ewigen Leben ein
Stück näher. Ihre Angst vor dem Sterben ist schließlich stärker als die vor
Altersdemenz. Und weil die Ernährungsaufklärung bisher scheiterte, wenn es darum
ging, das Ernährungsverhalten von Erwachsenen zu ändern, wendet man sich gezielt
an die Kindergärten. Jetzt hat man Vierjährige als neue Zielgruppe entdeckt. Die
Vorteile liegen auf der Hand: Erstens können die Kinder nicht weglaufen und
zweitens erspart das den missionierenden Akademikerinnen jene kritischen Fragen,
die der Kampagne ihre Rechtfertigung entziehen könnten. Dabei gibt es keinerlei
ernsthafte Evidenz, nach der eine vegetarische Ernährung als 'gesünder' zu
bezeichnen wäre als die übliche 'Mischkost'. Selbst der Sprecher der Arbeitsgruppe
Wissenschaft des 5-am-Tag-Vereins, Hans Konrad Biesalski, gestand ein, dass es
derzeit keinerlei Beweis für eine präventive Wirkung von Obst und Gemüse gibt.

Aber die ständig wiederholten Botschaften bleiben hängen. Kaum noch ein
Kinderbuch, in dem nicht die Landwirtschaft als Streichelzoo idealisiert wird, und
in dem Kinder, damit sie gesund, groß und stark werden, statt zweifelhaftem
Fleisch viel Salat essen und Multivitaminsaft trinken müssen. Das Trommelfeuer
derartiger Botschaften verfehlt ihr Ziel nicht – auch wenn dadurch die Zahl der
essgestörten und untergewichtigen Kinder und Jugendlichen bedrohlich ansteigt.

Großes Herz für Tiere

Sogar unser abendländisches Glaubensgut – institutionalisiert in den Kirchen –
scheint geeignet, um gegen den Konsum von Fleisch zu Felde zu ziehen. 'Du sollst
nicht töten', heißt es in der Bibel. Schließt das nicht auch das Töten der
Mitgeschöpfe ein? Christlich orientierte Gemeinschaften verkünden, dass es ihr
großes Anliegen ist, 'den Tieren, die Gott uns als Brüder gegeben hat',
beizustehen. Deshalb suchen sie nicht nur nach Alternativen zu Tierversuchen,
sondern auch zum 'Tierfleischverzehr'. Theologisch betrachtet steht diese
Interpretation des 5. Gebotes auf eher wackeligen Beinen. Denn das Alte Testament
beschreibt eine Vielzahl von Kriegen, bei denen ganze Völkerschaften mit Gottes
Hilfe auf wenig rücksichtsvolle Weise vom Diesseits ins Jenseits befördert wurden.
Das Gebot bezieht sich also nicht einmal auf alle Menschen – genau genommen gilt
es nur für Glaubensgenossen. Diese, und nur diese, dürfen nicht getötet werden.
Damit ist zwar der Mord innerhalb der eigenen Gemeinde verboten, nicht aber die
Schlachtung von Nutzvieh.

Tierschützer sehen das oftmals anders. Neben solchen, die sich mit großem
Engagement um das Wohl der Tiere verdient gemacht haben, tummeln sich darunter
auch einige, die zum Mord an jenen Menschen aufrufen, die nach ihrer Ansicht Tiere
quälen. Entgleisungen wie 'Sechs Millionen Juden sind in Konzentrationslagern
gestorben, aber dieses Jahr werden sechs Milliarden Grillhähnchen in
Schlachthäusern sterben', stammen nicht etwa von verwirrten Geistern, sondern aus
den Chefetagen gewisser Tierschutzverbände. Der Salzburger Tierrechtsphilosoph
Helmut F. Kaplan wird mit dem Satz zitiert: 'Toleranz gegenüber Fleischessern zu
fordern, ist ebenso absurd und obszön, wie Toleranz gegenüber Vergewaltigern und
Mördern zu fordern.'

Diese Philosophie fiel auf fruchtbaren Boden. Sie dient inzwischen manch einem
militanten Tierschützer als moralische Rechtfertigung für Terroranschläge auf
wissenschaftliche Einrichtungen und ihre Mitarbeiter. Nach Recherchen des
Journalisten Michael Miersch wurden nicht nur Laboreinrichtungen angezündet und
Briefbomben an missliebige Politiker versandt: In Chemnitz schloss der Metzger
Stephan Baumert seine Läden, nachdem militante Tierrechtler zwanzigmal bei ihm
randaliert hatten. 'Er war nicht der erste, der entnervt aufgab', so Miersch. 1999
wurde ein Journalist, der es wagte, über die militante Tierschützerszene zu
berichten, von einem Kommando der Animal Liberation Front entführt und gefoltert.

Erinnern Sie sich an den ermordeten holländischen Politiker Pim Fortuyn? Der
mutmaßliche Mörder hatte ein großes Herz für Tiere. Miersch: Seine
'Hauptbeschäftigung bestand in den letzten Jahren darin, landwirtschaftliche
Tierhalter mit Klagen zu überziehen. Dafür suchte er in den Betriebsgenehmigungen
nach nicht ganz wasserdichten Passagen und zog damit vor Gericht, um die
Schließung des jeweiligen Hofes zu erwirken. In den vergangenen acht Jahren hat
van der Graaf 2000 Prozesse gegen Landwirte und Genehmigungsbehörden geführt.
(...) Vermutlich verhängte van der Graaf am 6. Januar 2002 sein persönliches
Todesurteil gegen Pim Fortuyn. Denn an diesem Tag erklärte der schillernde
Politiker im Fernsehen: 'Wählt mich, dann wisst ihr, dass Pelzetragen erlaubt
ist.' Er kündigte an, das geplante Gesetz gegen Pelztierfarmen nach einem Wahlsieg
sofort in den Papierkorb zu befördern.'

Wann werden Tierschützer das Thema Schlachtung in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen
rücken? Aus emotionaler Sicht bietet es sich geradezu an. Daran ändert auch die
Tatsache nichts, dass sich Tieresmisshandlungen nicht nur in Mästereien und
Schlachtbetrieben ereignen, sondern auch in vielen engen Wohnungen, in denen
zahllose Hunde und Katzen von hingebungsvollen Tierfreunden alles andere als
artgerecht gehalten werden. So manch eine 'Tierliebe' ist für die umkosten
Schützlinge schlimmer als das kurze und von Vorschriften geregelte Leben eines
Mastschweins.
Aber vielleicht geht es ja beim Tierschutz tatsächlich um mehr als nur um Tiere.
Elke Heidenreich, einem Millionenpublikum als Elke Stratmann bekannt, sagte
einmal: 'Die Qual misshandelter Tiere fällt auf uns. Ein Mensch, der Tiere quält
und ausbeutet, kann keinen Frieden finden und keinen geben. Wir sind Teil ein und
derselben Welt.' Das ist zweifelsohne ein beherzigenswerter Gedanke. Aber damit
ist noch nicht geklärt, ob die Tierschützer die moralisch Guten sind, und jene die
bösen Buben, die Tiere mästen, töten und verzehren.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es die Tierhaltung war, die dazu
verhalf, den einst weltweit verbreiteten Kannibalismus zu überwinden. Erst die
Mast sorgte dafür, dass es wirtschaftlicher war, die Besiegten als Sklaven
arbeiten zu lassen und daraus mehr Nutzen zu ziehen als aus ihrem unmittelbaren
Verzehr. Überall dort, wo es keine Mast von Nutzvieh gab, war der Verzehr von
Menschen die Regel. Insofern ist eine Überproduktion an Fleisch auch ein wenig
beachteter Beitrag der Landwirtschaft zum Frieden. Es gibt übrigens keinen Grund,
über den Verzehr von Menschen moralisch empört zu sein. Aus Sicht eines Kannibalen
ist es erheblich moralischer seine Mitmenschen aus Appetit nach Fett und Eiweiß zu
töten, statt sie zu hunderttausenden auf den Schlachtfeldern zu töten und verwesen
zu lassen.

Fleisch aus neuen Schläuchen

Die Tötung ist die conditio sine qua non der Fleischgewinnung und zugleich der
gravierendste Eingriff in Leben und Wohlbefinden eines Tieres. Sind hier nicht
höchste Maßstäbe anzulegen? Was haben Land- und Fleischwirtschaft getan, um
sicherzustellen, dass Schlachtvieh so wenig wie möglich leidet? Offengestanden zu
wenig. Denn wenn heute noch Tiere lebendigen Leibes ausgenommen werden, und seien
es 'nur' Hühner, gibt es dafür keine, aber auch keinerlei Entschuldigung. Das ist
weder unvermeidbares Versehen noch verständlicher Kostendruck, sondern ein
Tatbestand, der die Branche Kopf und Kragen kosten kann. Nicht von heute auf
morgen, aber für eine Landwirtschaft, die in Generationen denkt, könnte es bald
die letzte Generation sein, die Tiere hält. Schon lange bahnt sich eine ernst zu
nehmendeAlternative zur Schlachtung an: die biotechnologische Erzeugung von
Fleisch. Damit ist nicht Sojafleisch gemeint oder jene Schimmelpilz-Hamburger, die
sich in Großbritannien eines stabilen Marktes erfreuen, sondern Fleisch, das im
Fermenter erzeugt wird. Es sind nicht nur 'Fleischforscher', die sich hier einen
großen Markt ausrechnen und deren Aktivitäten bereits zu einem ersten Weltpatent
für biotechnologisches Fleisch geführt haben. Auch die NASA würde ihre Verpflegung
für Raumflüge gerne vor Ort produzieren – ohne große Mengen an Futtermitteln zu
transportieren, ohne Fäkalien zu beseitigen und ohne den Astronauten eine
Schlachtung zuzumuten. Deshalb unternimmt sie große Anstrengungen, um
Fleischfasern im Fermenter gedeihen zu lassen. Daneben ist die Pharmaindustrie
sehr daran interessiert, menschliches Gewebe künstlich zu erzeugen. Das 'Tissue
Engineering' wird die gesamte Medizin revolutionieren.

Wenn es aber möglich ist, einen Herzmuskel aus Stammzellen heranwachsen zu lassen,
dann ist es eine vergleichsweise einfache Übung, auf diesem Wege einen Schinken zu
produzieren. Vielleicht sogar ohne Sehnen und mit mehr Geschmack. Mag sein, dass
dies gegenwärtig noch wie Zukunftsmusik klingt. Doch die Gewinnaussichten sind
enorm und das technische Handwerkszeug ist vorhanden.Über kurz oder lang wird es
biotechnologisches Fleisch geben – ohne Tierquälerei, ohne Schlachtung, ohne
Umweltbelastung durch Ammoniak oder Klimagase und das alles zu einem viel
günstigeren Preis. Statt einer flächendeckenden Tierhaltung sind dann nur noch ein
paar wenige große Fermenter notwendig und eine Handvoll Mitarbeiter, um den
Fleischbedarf einer Großstadt zu produzieren. Selbst eine Angstreaktion des
Verbrauchers parallel zur Grünen Gentechnik scheint unwahrscheinlich, denn das
Hightech-Fleisch wird sich entsprechend den Verbraucherwünschen designen lassen:
mit weniger Fett, weniger Cholesterin, weniger Arzneimittelrückständen und einer
Extraportion eines Modevitamins.

Will die Landwirtschaft diesen Prozess aufhalten, sollte sie versuchen, sich in
die ernährungsphysiologische Diskussion einzuklinken, und sich die nötige
fachliche Anerkennung zu erarbeiten. Das kostet zwar Zeit und auch
wissenschaftliche Unabhängigkeit von den Ideologien und Zeitgeistparolen, wie sie
auch von DGE, CMA und anderen aufklärerischen Organisationen verbreitet werden.
Aber nur so ist dem schlechten Gewissen bei Tisch entgegenzuwirken. Vollmundige
Slogans bewirken eher das Gegenteil, weil man verlorenes Vertrauen weder durch
Werbung noch durch 'Aufklärung' wiedergewinnen kann. Hat ein Kind nachts Angst vor
Gespenstern, bringt es nichts, ihmschlichtweg zu erklären, es gäbe keine Geister.
Das Kind hat dann zwei Probleme: Erstens vermutet es weiterhin ein Gespenst unter
dem Bett und zweitens fühlt es sich von seinen Eltern nicht ernst genommen. Damit
ist es nicht nur verängstigt, sondern zudem verzweifelt.

Auch mit Qualitätssicherungsprogrammen ist dem Problem nicht beizukommen.
Schließlich hat man demVerbraucher jahrelang 'geprüfte Qualität' und 'garantiert
sichere' Speisen versprochen. Wer nun erklärt, seine alten Werbeversprechen
überprüfen zu wollen, macht sich vollends zum öffentlichen Gespött. Durch
Kontinuität, Aufrichtigkeit und Augenmaß hingegen lässt sich eine
Ernährungskompetenz erarbeiten, die Vertrauen schafft und damit auf lange Sicht
die Skandalbereitschaft der Gesellschaft senkt.

Aktive Schritte notwendig

Viele landwirtschaftliche Ernährungsberaterinnen würden sich gerne und
selbstbewusst für einen schuldlosen Verzehr von Butter, Eiern und Steaks stark
machen, wenn ihre Vorgesetzten in den Kammern – die sich auf die DGE berufen –
ihnen die nötigen Informationen zukommen ließen. Stattdessen tragen sie durch die
von ihnen geforderte Art der Beratung massiv zur Verunsicherung der Bevölkerung
bei und legen damit den Grundstein für die nächsten Skandale. Wer beispielsweise
'5 am Tag' propagiert, sorgt nicht etwa nur für zusätzlichen Umsatz bei den
deutschen Johannisbeerproduzenten, sondern fördert auch den Import von Südfrüchten
vor allem im Winterhalbjahr. Außerdem gibt er damit zu verstehen, dass es besser
wäre, auf Fleisch, Butter und Eier zu verzichten. Und davon soll unsere
Landwirtschaft profitieren? In dieser Hinsicht ist die Naivität der Agrarstrategen
erschütternd.

Vertreter der Land- und Fleischwirtschaft müssen auch das Thema Schlachtung
vorurteilsfrei diskutieren – und das nicht erst, wenn es nicht mehr anders geht.
Neu ist die Idee gewiss nicht. Hat nicht Gotthard Hilse vom Bundesverband der
Deutschen Fleischwarenindustrie die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannt, als er
bereits 1992 darauf hinwies, dass Berichte über die Schlachtung 'in der Regel
Schuldgefühle (auslösen), die zu Konsumeinschränkungen führen'? 'Es ist
wahrscheinlich gar nicht möglich', so Hilse, 'in unserer Gesellschaft die
Vorbehalte gegenüber dem Schlachtprozess abzubauen. Man kann dafür bei objektiver
Betrachtung auch Verständnis haben, weil die Schnittstelle zwischen Leben und Tod
jeden mitfühlenden Menschen berührt. Der Weg zur Wurst führt aber unvermeidbar
über den Schlachtprozess. (...) Die Schnittstelle zwischen Leben und Tod muss –
soweit es nach den modernen Erkenntnissen möglich ist – so stress- und schmerzfrei
wie möglich sein. Der Verbraucher muss das Gefühl haben, dass von seiten der
Fleischwirtschaft hier alles getan wird, um das Leiden auf ein Mindestmaß zu
beschränken.'

Sie als Land- und Fleischwirte werden diese Fragestellungen mit anderen
gesellschaftlichen Gruppen diskutieren und schlussendlich auch den Verbraucher mit
einbeziehen müssen. Gelingt Ihnen dies nicht, wird die tierische Produktion über
kurz oder lang von ein paar Fermentern zur biotechnologischen Erzeugung von
Hamburgerpatties abgelöst.

Literatur
Armstrong GL et al: Trends in infectious disease mortality in the United States
during the 20th century. JAMA 1999/281/S.61-66
Biesalski HC: '5 am Tag'-Kampagne: Wissenschaftliche Begründung. DGE-Info
2001/H.7/S.100-101
Eberle, U: Im Atelier der Organ-Designer. GEO Wissen Nr.30/2002, S. 92-101
Hilse G: Fleischwarenindustrie: Neue Produktions- und Marketingansätze.
Fleischwirtschaft 1992/72/S.366-367
Miersch M: Alles für das Tier. Weltwoche 2002/Nr.39
Sample, I: Cosmic cuisine. New Scientist 2002/March 23./S.23
Sefton MV. Journal of Regenerative Medicine 2002/3/S.25-28
Van Eelen WF, van Kooten WJ: Industrial production of meat from in vitro cell
cultures. Weltpatent WO 99/31223 v.24.6.1999
Wolfson, W: Raising the steaks. New Scientist 2002/December 21./28./S. 60-63'

Links zum Thema Lebensmittel.

 


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